Das Gütesiegel des Grundgesetzes: Norbert Lammert im Gespräch über die Wiedervereinigung und das „Experiment Demokratie“

Ohne die besondere Qualität des deutschen Grundgesetzes wäre die Wiedervereinigung vielleicht ganz anders verlaufen – das sagt der ehemalige Bundestagspräsident und begeisternde Demokrat Norbert Lammert im Gespräch mit Maria Fixemer. Ein Interview zum 70. Geburtstag des beispiellosen Gesetzestextes.

#wirgewinnt: In diesem Jahr haben wir durch drei Jubiläen drei demokratische Großereignisse des letzten Jahrhunderts zusammen im Blick: 30 Jahre Mauerfall, 70 Jahre Grundgesetz, 100 Jahre Weimarer Verfassung. Haben sich für Sie aus dieser Zusammenschau neue Erkenntnisse ergeben?

Norbert Lammert: Der stärkste, nicht nur kalendarisch zufällige Zusammenhang zwischen den drei großen Jubiläen besteht für mich in dem denkwürdigen Beschluss der frei gewählten Volkskammer der DDR 1990, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten. Das heißt, hier haben wir den auch historisch, wie ich glaube, beispiellosen Vorgang, dass ein existierender Staat sich durch Parlamentsbeschluss auflöst und einem anderen existierenden Staat und seiner Verfassung beitritt. Dass jedenfalls die Mauer gefallen ist und zur spektakulärsten friedlichen Korrektur bestehender Verhältnisse in der jüngeren europäischen Geschichte, wenn nicht überhaupt in der Weltgeschichte geführt hat, das hat ganz offenkundig auch und gerade etwas mit dieser Verfassung zu tun.

Es gibt auch Stimmen, die heute sagen, dass es vielleicht gar nicht so glücklich war, keine gemeinsame Verfassung erarbeitet zu haben …

Norbert Lammert am 30. September 2019 in der Münchner Volkshochschule | Foto: © MVHS/Alescha Birkenholz

Es hat in der Tat diese Debatte gegeben – in Westdeutschland in einer anderen, aber doch ähnlichen Weise wie in Ostdeutschland. Aber die Entscheidung, keine neue Verfassung zu erarbeiten, sondern die Einigung durch Beitritt zu einer vorhandenen Verfassung zu vollziehen, ist ja nicht im Bonner Bundestag gefallen, sondern in der ersten aus freien Wahlen hervorgegangenen Volkskammer der DDR. Das macht die Frage nicht illegitim, ob man es nicht hätte anders machen können: Natürlich hätte man das. Aber dass es so und nicht anders gemacht wurde, das war die Entscheidung des Parlaments der DDR und ist auch als Gütesiegel des Grundgesetzes anzusehen: Hätte man das für einen schlechten oder dringend veränderungsbedürftigen Gesetzestext gehalten, wäre die Entscheidung zum Beitritt sicherlich nicht so getroffen worden.

In einem Interview haben Sie kürzlich Obama zitiert: „Die Demokratie ist immer dann am meisten gefährdet, wenn die Menschen beginnen, sie für selbstverständlich zu halten.“ Der Status des Provisoriums, des „Experiments, das jeden Tag von neuem gewagt werden muss“, wie der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel es formuliert hat, erschien auch uns so interessant, das wir ihn zum Titel unseres Programmschwerpunktes „Das Experiment: Deutschland und die Demokratie“ gemacht haben …

Demokratien sind keine sich selbst erhaltenden Systeme – dafür gibt gerade die deutsche Geschichte besonders anschauliche Belege. Die Fraenkel’sche Beobachtung ist eine im Kern zutreffende Übertreibung: Natürlich ist Demokratie nicht ein täglich neues Experiment mit ständig neuem Versuchsausgang. Aber richtig ist, dass die Demokratie aufgrund ihrer Strukturen und Institutionen nicht stabiler, sondern labiler, gefährdeter ist als autoritäre Systeme. Diese setzen sich dem Test ihrer Akzeptanz nicht ständig aus, während die Demokratie diesen Test vielleicht nicht täglich, aber regelmäßig bestehen muss: In Form von Wahlen, bei denen die Machtverhältnisse immer neu entschieden werden, aber auch in Form von absehbaren und nicht absehbaren Herausforderungen durch Naturkatastrophen, durch Wirtschaftskrisen, Klimakrisen, in denen dann jeweils sowohl die Handlungsfähigkeit als auch die Legitimation der staatlichen Organe getestet, bestätigt oder in Zweifel gezogen wird.

Wie kann das gelingen, die Demokratie als solch ein dauerhaftes Experiment zu leben, das ständig auf dem Prüfstand steht und droht, von Krisen erschüttert zu werden?

Norbert Lammert am 30. September 2019 in der Münchner Volkshochschule | Foto © MVHS/Alescha Birkenholz

Man kann die historische Erfahrung, dass Demokratien nie in Stein gemeißelt sind, gar nicht häufig genug ins öffentliche Bewusstsein heben, weil sie eben kein verlässlich präsenter Stand des öffentlichen Bewusstseins ist. Im Übrigen ist es nicht so, dass Krisen zwangsläufig demokratische Strukturen aushebeln. Sie können auch den umgekehrten Effekt haben und zu neuen Prioritäten führen. Manches, was ich an Herausforderungen unserer Demokratie wahrnehme – und das sich auch in der Erosion des Parteiensystems niederschlägt, in neuen Gruppierungen, in stärkeren Präferenzen für Flügel, in der erstaunlichen Attraktivität autoritärer Lösungen – hat in meinen Augen sehr viel zu tun mit dem Gefühl stabiler Rahmenbedingungen, in denen man sich diese Art von Eskapismus erlauben kann. Würden wir wirklich vor einer existentiellen Herausforderung stehen – und diese auch als solche wahrnehmen –, würden sich manche Dringlichkeiten verändern.

Herr Professor Lammert, haben Sie zum Abschluss noch einen Buchtipp für uns? Was sollte man unbedingt lesen, wenn man über aktuelle Kernfragen unserer Demokratie im Bilde sein möchte?

Da könnte ich Ihnen vieles empfehlen. Mit Blick auf aktuelle Debatten empfehle ich vor allem das Buch „Das Integrationsparadox“ des deutschen Soziologen Aladin El-Mafaalani. Er liest – als deutscher Staatsbürger und Kind syrischer Einwanderer – die deutschen Debatten zu Integrationsfragen quer. Seine überraschende These lautet: Dass wir aktuell so viele Konflikte und Kontroversen zum Thema Migration öffentlich austragen, ist kein Zeichen misslungener Integration, sondern ein Indiz für stattgefundene Integrationsprozesse. Hätte man zum Beispiel vor zehn Jahren gefragt, ob der Islam zu Deutschland gehört, wäre die Antwort ziemlich einstimmig „nein“ gewesen. Heute haben wir aber eine kontroverse Debatte mit jeweils beachtlichen Argumenten für und gegen diese Vermutung. Das bestätigt, dass wir uns längst in einem Integrationsprozess befinden, der im Gang ist und zunehmend gelingt.


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