Was ich am 9. November 1989 gemacht habe? Ich kann es nicht spontan beantworten und lese in meinen alten Tagebüchern – eine Erfahrung, die mich in großes Erstaunen versetzt. Denn das 21-jährige Ich, das mir dort begegnet, erwähnt die historischen Ereignisse mit keinem Wort. Offensichtlich ist der gesamte November 1989 an mir vorbeigerauscht.
Dabei meine ich mich ganz deutlich an meine Verblüffung zu erinnern, als es hieß, die Grenze ist offen, in Berlin tanzen die Menschen auf der Mauer. Was habe ich in diesen aufwühlenden Tagen wahrgenommen? Habe ich die Pressekonferenz des Günter Schabowski am kleinen Schwarzweißfernseher, dessen Antenne man immer justieren musste, verfolgt? Oder habe ich alles erst am nächsten Morgen mitbekommen?
Geschrieben habe ich nichts darüber. Ist Zeitgenossenschaft auch bei Absenz möglich? Wahrscheinlich wurden die meisten von den Ereignissen überrumpelt. Selbst diejenigen, die sich in dieser Nacht in Richtung Mauer aufmachten und die Grenzposten geradezu überrannten, wussten nicht, was sie erwartet.
Was ist Zeitgenossenschaft? Drei Autor*innen geben Auskunft
Marcel Beyer schreibt in einem Essay:
Ich bin nicht dabeigewesen. Nehme ich den 9. November 1989 als historisches Datum in den Blick, sehe ich mich nicht. Nehme ich mich selbst an diesem Tag in den Blick, bleiben die historischen Ereignisse ausgespart. Die kleine Dachwohnung in Köln, der taubengraue Teppichboden, der Fernseher, ein Geschenk von Freunden: Ich saß diesseits des Bildschirms, während sich jenseits der gewölbten Glasscheibe Geschichte ereignete, jetzt, in diesem Augenblick. Vielleicht hat in jener Nacht, ohne daß es mir bewußt gewesen wäre, etwas begonnen – vielleicht bin ich in den folgenden Tagen, an die ich keine besondere Erinnerung habe, aufgebrochen, um die Unvereinbarkeit zweier Bilder schreibend zu untersuchen: Hier ein historisches, ganz gegenwärtiges, und dort ein Bild, auf dem ich ohne alle Geschichte zu sehen bin.
Ein anderer, der sich in denkbar großer Distanz zu den Berliner Ereignissen befand, war Uwe Kolbe. Nach langen Jahren der Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit war er 1987 nach Hamburg übergesiedelt. Im Herbst 1989 hielt er sich in den USA auf. Die Öffnung der Mauer verfolgte er am Fernseher.
Nach den Abendnachrichten des 9. November 1989 zur Prime Time, also um 6 p.m. alias 24 Uhr MEZ, hatte ich von Austin, Texas, aus meine Mutter angerufen. Es war nun schon ein Uhr nachts in Berlin. Ihre Stimme drang freudig schreiend in das Apartment (…): „Ick war im Wedding! Wahnsinn!“ Ich schrie dann – wie sie vollkommen außer mir mit hüpfendem Herzen und unablässig laufenden Tränen – eine Weile mit ihr um die Wette, mehr Inhaltliches als das Hauptwort dieser Stunden und der folgenden Tage tauschten wir eigentlich nicht aus. Erst zum vereinbarten Datum Mitte Dezember verließ ich die Vereinigten Staaten. Um dieses „Fest meines Lebens“ war ich auf gewisse Weise also betrogen worden.
Daniela Danz, 1976 in Eisenach geboren, war ein Teenager:
Mir sind diese Momente gesellschaftlicher Synchronisierung von Nine Eleven oder Eleven Nine sehr wichtig, so wie mich der Gedanke froh macht, um 20 Uhr gleichzeitig mit ein paar Millionen Mitmenschen die Tagesschau zu sehen. An den 9.11. habe ich persönlich allerdings keine Erinnerung, was damit zusammenhängt, dass ich zur Zeit der Meldung auf dem Weg ins Bett gewesen sein muss, denn ich war 13. Aber an die Folgetage erinnere ich mich, besonders an den Moment, als mein Großvater, der beim Straßenbau gearbeitet hat, morgens sagte: „Wir haben heute Nacht den Zaun bei Hörschel aufgeschnitten, da ist es noch leer, da könnt ihr ohne viel Gedränge rüberfahren.“ Und dann sind wir gefahren, dorthin, wo für mich immer das Weltende war, nur 20 km entfernt.
Etwa 25 Jahre später hat Daniela Danz ein Gedicht über diese Phase geschrieben:
Stunde Null: Loop
Die Linde hat all ihre Blätter verloren
und vom Sommer blieb nichts als
der Wunsch dem alten Deutschland
noch einmal den Kopf zu kraulen
und zu versprechen dass seine Enkel
sich besser erinnern werden – was nützt
ein Gedicht wo die anwachsenden
Berge der Dinge zum Jodeln zwingen
Der 9. November 1989 – und alles, was danach kam – hat deutsche Lebenslinien durchkreuzt, ganze Landstriche verwandelt.
Wer erinnert sich nicht an die überall in den Randbezirken wie Pilze aus dem Boden schießenden Gebrauchtwagenhändler, die ihre Standorte mit glitzernden blau-silbernen Fähnchengirlanden verheißunsgvoll markierten? Erste Vorboten einer Landnahme ohnegleichen.
Das Nachkriegsgefüge war aus dem Takt geraten. In Zeitraffer wurde unsere gesamte Welt verändert. Welch hochfliegende Hoffnungen damit verbunden waren, welch Glück durch Freiheit und Gleichheit lebbar wurde und welch bittere Enttäuschungen sich bald einstellen sollten, war im November 1989 noch nicht absehbar.
Und wir Zeitgenossen? Ließ sich aus der hilflosen Verlautbarung Günter Schabowskis, „ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstationen der DDR zur BRD bzw. nach West-Berlin erfolgen“ wirklich heraushören, dass darin Anfang und Ende für uns alle lagen?
Wo steht’s?
- Marcel Beyer
Putins Briefkasten. Acht Recherchen
Berlin 2012 - Daniela Danz
V. Gedichte
Göttingen 2014 - Uwe Kolbe
Vinetas Archive. Annäherungen an Gründe
Göttingen 2012
Mehr dazu:
- Schreiben in einem Land – deutsche Lyrik nach 1989
Lesung und Gespräch mit Niels Beintker, Marcel Beyer, Dr. Daniela Danz, Uwe Kolbe
Dienstag, 15. Oktober 2019 | 20 Uhr | Münchner Volkshochschule im Einstein 28