„Eine unglaubliche Geschichte“: Sängerin Salome Kammer hat der deutschen Nationalhymne nachgespürt

Die deutsche Demokratie und ihre Symbole – das war und ist keine einfache Beziehung. Flagge, Hymne, Bundesadler, solche Zeichen der Nation werden zwar zu offiziellen Anlässen und Sportereignissen irgendwie gebraucht, aber angesichts der deutschen Vergangenheit scheint besondere Verehrung nicht angebracht. Die Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold haben es immerhin ins Grundgesetz geschafft und sind seit dem „Fußball-Sommermärchen“ von 2006 als Accessoire des treuen Fans unverzichtbar. Anders ergeht es der deutschen Nationalhymne, die immer noch umstritten ist: Die letzte Petition dazu an den Bundestag stammt aus dem Jahr 2017. Salome Kammer weiß in unserem Interview darüber einiges zu erzählen.

Porträt von Salome Kammer
Foto: Christoph Hellhake

Maria Fixemer: Liebe Frau Kammer, gemeinsam mit Maria Reiter am Akkordeon begleiten Sie als Sängerin am 30. September die Auftaktveranstaltung zum Programmschwerpunkt der Münchner Volkshochschule: „Das Experiment: Deutschland und die Demokratie“. Ihr Programm für den Abend heißt „Des Glückes Unterpfand – ein musikalisches Experiment“. Was haben Sie da vor?

Salome Kammer: Wie der Name schon andeutet, werden wir uns mit der deutschen Nationalhymne beschäftigen. Dazu gehört natürlich als erstes deren Geschichte. Ihr Vorläufer ist das Lied „Heil dir im Siegerkranz“, das 1871 unter Bismarck zur deutschen Kaiserhymne wurde. Uns hat auch interessiert, welche Wege diese Melodie dann genommen hat: Sie diente einer dänischen Königshymne, wird in Liechtenstein und auf Hawaii gesungen und findet sich in der englischen Hymne „God save the Queen“ wieder. Die Melodie der heutigen Nationalhymne stammt aber von der österreichischen Kaiserhymne „Gott erhalte Franz, den Kaiser“. Für sie hat sich ihr Komponist Joseph Haydn von einem kroatischen Volkslied inspirieren lassen.

Und wie ging es mit dieser Hymne dann weiter?

In der Weimarer Republik machte Friedrich Ebert das „Lied der Deutschen“ zur Nationalhymne – zur Melodie von Haydns „Gott erhalte Franz, den Kaiser“ und mit dem Text von Hoffmann von Fallersleben. Unter Hitler wurde das „Deutschland, Deutschland über alles“ mit voller Inbrunst gesungen, oft gemeinsam mit dem Horst-Wessel-Lied, das übrigens heute verboten ist. Wir nehmen in unsere musikalische Bearbeitung der Geschichte der deutschen Hymne eine bittere Parodie dieses Liedes auf, den „Kälbermarsch“ von Bert Brecht und Hanns Eisler.

Auch was nach dem Krieg passiert ist, ist unglaublich spannend. Denn die Deutschen wollten ja weiterhin ihr Land besingen. Das erzähle ich nun aber nicht schon alles, das können Sie dann am 30. September hören. In unserem Programm gehen wir natürlich auch auf die Situation zwischen 1989 und 1991 ein, als sich die Frage gestellt hat, was die Hymne für das wiedervereinigte Deutschland werden soll.

Was spielt in Ihrem Programm neben der Geschichte der deutschen Nationalhymne noch eine Rolle?

Wir haben uns auch gefragt: Was ist überhaupt eine Hymne, wo werden Hymnen gesungen? Und da gibt’s ja viel Futter. Fast jeder Ort, jede Stadt hat ein Lied, in dem ihre eigene Schönheit beschrieben wird. Auch Landschaften werden mit Hymnen besungen. Es gibt Vereine, die ihre eigene Hymne haben und da haben wir kräftig gesucht und ein Potpourri zusammengestellt – das ich jetzt natürlich auch noch nicht verrate!

Salome Kammer und Maria Reiter
Salome Kammer & Maria Reiter — Foto: Christoph Hellhake

 

Wenn man die Geschichte der deutschen Hymnen vor Augen – und Ohren – hat, fragt man sich schon: Was haben Hymnen mit Demokratie zu tun? Können Hymnen überhaupt demokratisch sein?

Eine Hymne ist ja erst einmal nur ein Lobgesang und hat mit einem politischen System nicht per se etwas zu tun. Denn eine Hymne bringt vor allem die Verbundenheit mit einer Gemeinschaft oder einem Ort zum Ausdruck. Der Begriff „Hymne“ kommt aus dem Griechischen und bezeichnete ursprünglich Loblieder für Götter. Auch die Psalmen in der Bibel sind letztlich Hymnen.

Hymnen haben also nicht direkt etwas mit Demokratie zu tun – oft eher im Gegenteil. Diktaturen etwa haben auch ihre Hymnen, die dann vom Volk verinnerlicht werden müssen. Das konnte man auch in der DDR gut sehen: Dort wurde die neue Hymne den Kindern vorgelegt, die als allererste lernen mussten, sie zu singen.

Bodo Ramelow, der thüringische Ministerpräsident, hat im Mai dieses Jahres vorgeschlagen, eine neue Hymne einzuführen. Die Begründung war, dass sich viele Ostdeutsche nicht mit der aus der BRD übernommenen Hymne „Einigkeit und Recht und Freiheit“ identifizieren würden. Als Alternative hat Ramelow die „Kinderhymne“ von Brecht ins Spiel gebracht …

Ja, die wurde immer wieder vorgeschlagen, die singen wir natürlich auch. Ich kann das verstehen: Ich finde es sehr wichtig, dass man sich über die deutsche Hymne noch einmal Gedanken macht. Meiner Meinung nach ist es sehr schade, dass nach der Wende einfach beschlossen wurde, die Hymne der BRD zur Hymne für das wiedervereinigte Deutschland zu machen. Allerdings ist ein Wechsel der Hymne jetzt nach 30 Jahren unwahrscheinlich, weil keine konkrete Veranlassung dazu besteht. Interessanter fand ich den Vorstoß, die Sprache der jetzigen Hymne zu überarbeiten: zum Beispiel wurde vorgeschlagen, „Vaterland“ durch „Heimatland“ zu ersetzen. Und noch ein Wort, „brüderlich“, wird von denen, die aus Genderperspektive den Text der aktuellen Hymne modernisieren möchten, kritisiert. Als Alternative wurde „couragiert mit Herz und Hand“ vorgeschlagen. Das finde ich sehr schön, weil es bedeutet: Wir alle sollen uns aktiv für Einigkeit, Recht und Freiheit einsetzen.

Video: Nationalhymne bei der Fußball-WM 2006

Ob eine Nationalhymne aber überhaupt auf diese Weise geändert werden kann, ist fraglich. 1952 wurde unsere vom Bundespräsidenten zusammen mit dem Bundeskanzler einfach festgesetzt. Es ist aber auch schwierig, sich bei der Bestimmung der Hymne einen demokratischen Prozess vorzustellen. Gerade jetzt, wo Politisches so hitzig diskutiert wird, könnte eine demokratische Entscheidung über eine Veränderung der Hymne ganz schön daneben gehen.

Ich finde es interessant, dass gerade in Bezug auf die Nationalhymnen – die ja zumindest in Teilen auch demokratische Werte besingen – der demokratische Prozess an seine Grenzen zu stoßen scheint.

1950 ist es ja versucht worden: eine unglaubliche Geschichte! Theodor Heuss merkte, dass er dringend eine deutsche Nationalhymne festlegen muss. Während die DDR 1949 eine eigene Hymne in Auftrag gab, war man in Westdeutschland sehr zögerlich. Das hat dazu geführt, dass sich das Volk zum Teil selbstständig gemacht und zum Beispiel entschieden hat: Jetzt singen wir einfach einen Karnevalsschlager, um damit Deutschland zu repräsentieren. Auch bei offiziellen Empfängen im Ausland wurden bisweilen Karnevalslieder und Gassenhauer gespielt. Heuss hat in dieser Situation einen Freund beauftragt, einen Text zu schreiben, der vertont wurde. Dieses Lied hat Heuss der deutschen Nation vorgestellt als eines, das „die Hymne werden sollte“. Daraufhin hat er über 2.000 Briefe erhalten mit eigenen Vorschlägen für die neue deutsche Nationalhymne. Das ist eben Demokratie – und hat Heuss erst einmal völlig überfordert.

Daraufhin haben Heuss und Adenauer 1952 beschlossen, die dritte Strophe des „Lieds der Deutschen“ als Nationalhymne festzusetzen. Was natürlich all die Erinnerungen auch an Deutschland unter Hitler, die die Nachkriegsgeneration noch in sich trug, wieder aufgerufen hat. Wenn man eine bekannte Melodie hört, hat man natürlich auch gleich den Text, mit dem man sie kennengelernt hat, im Kopf – und das „Deutschland, Deutschland über alles“ aus der ersten Strophe konnte man doch im Deutschland der 50-er-Jahre nicht mehr singen! Diese Entscheidung war also nicht mutig und auch ein Stück weit paradox. An dieser Stelle hat es die DDR viel besser gemacht, indem dort ein Dichter und ein guter Musiker beauftragt wurden, eine ganz neue Hymne zu schreiben und zu komponieren.

Video: Nationalhymne der DDR in der Version von Mia.

Sie haben dadaistische Gedichte sowie Texte aus dem Gesamtprogramm der Münchner Volkshochschule vertont – nun gestalten Sie für die Eröffnung des Schwerpunkts „Das Experiment: Deutschland und die Demokratie“ auch ein „musikalisches Experiment“. Es scheint, als würden Sie das Experimentelle sehr schätzen. Warum?

Als Interpretin spiele ich mit einem Material, das mir jemand anderes an die Hand gibt – und damit experimentiere ich. Wenn ich mit Komponisten arbeite, dann haben die erst einmal eine Idee und ich soll ihnen helfen, sie lebendig werden zu lassen. Deshalb ist mein Beruf auch so interessant: Ich bin immer mit den schöpferischen Gedanken von anderen Leuten beschäftigt und versuche, sie nachzuvollziehen und so zu übersetzen, dass ein Publikum ihnen folgen kann. Dass das dann mitunter solch verrückte Sachen sind wie die Vertonung eines Kursbuchs der Volkshochschule, bei der man mit einem Augenzwinkern auf gewisse Absurditäten hindeutet, das ist natürlich Absicht. Beim Experimentieren mit solchen Stoffen – und auch mit Nationalhymnen, wie wir es am 30. September vorhaben – geht es ja auch darum, die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu wecken. Wir möchten sie dazu zu verlocken, selbst mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und dabei zu entdecken, was alles zu Kunst gemacht werden könnte.


Das Experiment:
Deutschland und die Demokratie

Auftakt zum Programmschwerpunkt
30. September 2019 · 19 Uhr
Gasteig, Rosenheimer Straße 5 in München
Black Box
→ Zur Anmeldung

  • Begrüßung
    Dr. Susanne May
    Programmdirektorin der Münchner Volkshochschule
  • Grußwort
    Dieter Reiter
    Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München
  • Vortrag
    Prof. Dr. Norbert Lammert
    Bundestagspräsident a. D.
  • Musik
    Salome Kammer, Gesang, und
    Maria Reiter, Akkordeon

Die Redebeiträge werden in die Deutsche Gebärdensprache übersetzt.

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