Fundstück: Literarische Kassiber

Der 250. Geburtstag des Dichters Friedrich Hölderlin ist nicht gefeiert worden, zumindest nicht mit öffentlich zugänglichen Veranstaltungen. Stattdessen wurde von einigen Bundesländern wegen der rasanten Ausbreitung der Infektionen mit dem Coronavirus am 20. März 2020 – an Hölderlins Jahrestag – eine Ausgangssperre verhängt. Die Menschen sitzen – abgesehen von gelegentlichen Ausflügen zum Einkaufen oder zur Arbeit – zwischen ihren vier Wänden und sind mit sich selbst konfrontiert.

Friedrich Hölderlin, Pastell von Franz Karl Hiemer, 1792

Wir kommen im Moment dank der Digitalisierung nur virtuell über die diversen Kanäle zusammen und erleben die Entfachung teilweise ungeahnter kreativer Potenziale – Handy-Videos werden gedreht und auf Instagram gestellt, kleine Lieder werden komponiert und mit dem Smartphone aufgenommen, abends stehen wir an den Fenstern und applaudieren den medizischen Pflegekräften. Es gibt so viele Arten, sich zu beschäftigen: endlich den Frühjahrsputz angehen, sämtliche Staffeln der „Sopranos“ noch einmal anschauen, Balkonblumen pflanzen, die Kinder zum häuslichen Lernen motivieren – aber was tun, wenn die Meldungen von Fallzahlen, von katastrophalen Szenarien, von denen wir nicht gedacht hätten, sie jenseits der Blockbusterfilme zu erleben, nicht aufhören, uns in ständiger Sorge zu halten? Was für eine Welt werden wir nach Corona vorfinden?

Die Literatur stellt tatsächlich vielfältige Möglichkeiten bereit, das gedankliche Hamsterrad zumindest für einen Augenblick anzuhalten. Und mehr noch, Literatur macht aktiv, bringt die Gedanken in Bewegung und spendet im schonungslosen Blick auf den Schrecken ja auch das, Trost.

Bei manchen Texten scheint es, als seien sie gerade auf unsere jetzige Situation hingeschrieben worden – sie sind wie Kassiber aus einer anderen Zeit, mit denen die Autoren und Autorinnen uns ihrer Solidarität versichern.

Einer dieser Kassiber ist ein kurzes Gedicht des späten Hölderlin, der als junger Dichter die deutsche Poesie in seinen Texten mit einem völlig neuen hymnischen Ton revolutioniert hatte. Mit Anfang 30 mehrten sich die Anzeichen seines psychischen Verfalls. Nachdem er für längere Zeit in einem Tübinger Hospital quälenden psychiatrischen Behandlungen ausgesetzt war, kam Hölderlin ab 1807 in die Pflege einer Tübinger Handwerkerfamilie, die ihn bis zu seinem Tod im Jahr 1843 betreute. Mitten in Tübingen lebte er in einem Turm, schrieb und arbeitete mit stetem Blick aus dem Fenster und signierte seine Gedichte mit unterschiedlichen Pseudonymen:

Aussicht

Der offne Tag ist Menschen hell mit Bildern,
Wenn sich das Grün aus ebner Ferne zeiget,
Noch eh des Abends Licht zur Dämmerung sich neiget,
Und Schimmer sanft den Klang des Tages mildern.
Oft scheint die Innerheit der Welt umwölkt, verschlossen,
Des Menschen Sinn von Zweifeln voll, verdrossen,
Die prächtige Natur erheitert seine Tage
Und ferne steht des Zweifels dunkle Frage.

Den 24. März 1671 Mit Untertänigkeit
Scardanelli.

In den vergangenen Tagen und Wochen hat sich unsere Welt radikal verändert. Und während wir uns noch die Augen reiben über dies schier unglaubliche Geschehen, beginnen die Bäume auszuschlagen und Osterglocken nicken an verwaisten Straßenkreuzungen. Die Menschen erleben eine historische Zäsur, deren Konsequenzen nicht absehbar sind, und die prächtige Natur bleibt davon unberührt.

Auch ein Trost.


Dank an unsere Dozentin Johanna Renate Döring, die uns den Kassiber zusteckte. Weitere werden folgen.

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