Ein Bild und seine Geschichte: Stunde Null auf dem Seil

Die Bundesrepublik Deutschland ist mit ihren 70 Jahren eine relativ junge Demokratie. Wenn man in die Gründungsjahre zurückschaut, zeigt sich ein von inneren und äußeren Verwüstungen der Naziherrschaft schwer gezeichnetes Land. Die Fotografie eines Unbekannten kann als ikonisches Bild der unmittelbaren Nachkriegszeit verstanden werden: Die „Stunde Null auf dem Seil“, wie wir das Bild genannt haben, verdichtet auf eindringliche Weise das Gefühl, ohne Halt und Netz in eine neue Zeit zu gehen.

Seltaenzerin Koeln

Eine junge Frau balanciert auf einem Seil. Sie ist barfuß, ihre muskulösen Beine unter dem Trikot zeigen, wieviel Anstrengung und Kraft dieser Akt sie kosten mag. Mit festem Griff hält sie eine lange Stange, die in der Mitte durchgebogen ist. Ihr Blick richtet sich konzentriert auf das Seil. Wo es beginnt, wo es endet und ob hier mit Netz gearbeitet wird, sieht man nicht. Der auf dem Foto festgehaltene Augenblick hat wenig von der Leichtigkeit oder Grazilität eines Hochseilakts im Zirkus. Es scheint, als ob die junge Frau aus dem Nichts ins Nichts schreitet – im Hintergrund und beängstigend tief unter ihr nur Trümmer, auf den freigeräumten autolosen Straßen versprengte Menschen in Miniaturformat.

Der sensationelle Balanceakt, der in großer Höhe über der zerstörten Stadt stattgefunden hat, passt in das Bildarsenal jener Phase kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, in der das gesamte Leben still zu stehen schien. Die Seiltänzerin balanciert waghalsig und unbeirrbar zugleich aus dem Bild heraus, als ob sie die Verwüstungen des Krieges und die Gräuel der Vergangenheit hinter sich ließe, ohne sich noch einmal umzuschauen.

Über dieses Bild gibt es nur wenig Informationen. Harald Jähner hat es als Frontispiz für seine bei Rowohlt erschienene Studie „Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955“ ausgewählt, es ist dem Band „Köln und der Krieg: Leben, Kultur, Stadt. 1940-1950“ aus dem Greven Verlag entnommen. Sicher ist nur, dass es in Köln nach dem Zweiten Weltkrieg von einem unbekannten Fotografen aufgenommen wurde. Möglicherweise handelt es sich – so Robert Baumanns in der Online-Version des Kölner Express – um die erste Vorstellung der renommierten Artistenfamilie Traber auf dem von Fliegerbomben völlig zerstörten Kölner Heumarkt im Jahr 1946.

Walter Dick, ein Kölner Fotograf, hat die Szene aus einer anderen Perspektive festgehalten (vgl. Foto Archiv-Dick). Von unten betrachtet, gerahmt von einer Zuschauermenge, im Hintergrund die Silhouette des Kölner Doms, erhält der Augenblick seinen historischen Kontext. Offensichtlich wurde ein großes Netz aufgebaut, darüber die Seile in 24 Meter Höhe gespannt. Die mutige Artistin war Rosanna, ein Star der Familie, mit bürgerlichem Namen hieß sie Margot Traber und wurde 1918 geboren. Wenige Monate nach diesem atemraubenden Hochseilakt stürzte sie bei einer anderen Vorstellung in Herfort ab und starb an ihren Verletzungen.

Das Bild des gewagten Hochseilakts über der zerstörten Stadt beschwört die „Stunde Null“ herauf und zeigt zugleich, wie inmitten der Trümmer Kunst und Kultur wiederauflebten und auf diese Situation antworteten. Zu den Antworten, die uns heute diese Zeit eindrucksvoll vor Augen führen, gehören auch Filme junger Regisseure der 40er Jahre. Sie greifen nationalsozialistische Gewalt, Krieg und Bombennächte, die individuelle Verstrickung und die Heimkehrer-Thematik auf innovative Weise auf.

Die Münchner Volkshochschule widmet dem „Kino am Nullpunkt“ im Januar eine eigene Reihe – mit Filmen wie der „Berliner Ballade“, in der Gert Fröbe als „Otto Normalverbraucher“ zu sehen ist, oder Wolfgang Staudtes „Die Mörder sind unter uns“ mit Hildegard Knef. Dazu gibt es eine Einführung vom Filmexperten Dr. Alexander Schwarz.

Kino am Nullpunkt? Filmische Übergänge
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