Wörterbuch der Demokratie: Einheit

Einheit – ein Wort, das so einfach über die Lippen geht und doch auch sperrig sein kann. Was heißt „Einheit“ eigentlich? Und was ist, wenn sie konkret werden soll?

Die einen verbinden mit Einheit statische Uniformität und Gleichmacherei. Die anderen stören sich an ihr, weil sie sie in ihrem Streben nach größtmöglicher Individualität und Freiheit zu behindern scheint. Was bedeutet Einheit in einer Zeit, in der große Gesellschaften zunehmend in unterschiedliche kleine Einheiten auseinanderdriften? Was bedeutet Einheit, wenn sich Teile einer Gesellschaft so fremd gegenüberstehen, dass wechselseitiges Vertrauen schwer fällt? – wenn es unmöglich zu sein scheint, sich über alle Differenzen hinweg die Hand zur Verständigung zu reichen?

Spalt in der Berliner Mauer

Einheit, ein schwieriger, aber bedenkenswerter Begriff.

Jedes Jahr am 3. Oktober feiern wir Deutsche den „Tag der Deutschen Einheit“ als unseren höchsten Staatsfeiertag. Jedes Jahr wird in vielerlei Reden, Festakten und Zeremonien eines Ereignisses gedacht, dessen Bedeutung wir in den letzten Jahren mehr und mehr zu vergessen drohen. Dabei steht dieser Tag für einen Vorgang in der jüngeren deutschen und europäischen Geschichte, der an unerwarteter Dramatik und Wunderhaftigkeit kaum zu übertreffen ist.

In diesem Herbst jährt sich zum dreißigsten Mal, dass die Mauer und die damit todbringende Grenze zwischen Ost und West in Folge einer unblutigen Revolution gefallen ist. Von einem Sieg der westlichen Demokratie ist dabei oft die Rede. Doch wo Sieger, da auch Besiegte?

Freude über die Einheit längst vergessen

Ich selbst wurde im November 1989 geboren. Auch wenn ich mich nicht persönlich an die Geschehnisse vor drei Jahrzenten erinnern kann, beschäftigen mich diese. Als 89-er sehe ich mich als einen Vertreter der ersten Generation von Deutschen, die in einem ungeteilten Land, fernab von jeglicher Kriegsgefahr zwischen Ost und West aufwachsen durfte. Spreche ich mit meinen Eltern, ja sogar mit meinen älteren Brüdern über die Zeit davor, so wird mir jedes Mal klar, wie unfassbar groß der Freudentaumel gewesen sein muss, als diese Grenze fiel.

Wie so viele Familien in unserem Land war auch meine durch die deutsche Teilung in einen Zweig „Hüben“ und „Drüben“ der Zonengrenze zerrissen worden. Immer wieder beeindrucken mich die Erzählungen meiner Eltern. Sie berichten von nahezu abenteuerlichen Bemühungen und Widrigkeiten, die die Familienmitglieder in West und Ost auf sich nahmen, um nicht letzten Endes den Kontakt zueinander zu verlieren. „In Kontakt bleiben“ – Ein Schlüssel, wenn man dem Begriff „Einheit“ näher kommen möchte. Wer nicht in Kontakt bleibt, wird sich fremd und gerät in Distanz zum Anderen, entfremdet sich.

Heute scheint dies alles weit weg. Die innerdeutsche Grenze ist an vielen Stellen unkenntlich geworden. Noch erinnern einige Museen und ein Pflastersteinstreifen in den Straßen Berlins an den ehemaligen Grenzverlauf.

Die Mauer ist verschwunden. Doch wurde sie auch in den Köpfen der Menschen eingerissen? Die Jubelstürme von 1989 sind längst vorüber, so manch kühne Hoffnungen wurden enttäuscht. Entgegen allen Versprechungen gab es eben doch nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer. Anstatt des ersehnten „Weltfriedens“ traten neue Konflikte an die Stelle der alten. Trotz staatlicher „Einheit“ scheint man sich doch bisher fremd geblieben zu sein. Die EINHEIT, die sich in gegenseitigem Verständnis, Vertrauen und Wohlwollen äußert, lässt noch immer auf sich warten.

Unsere Nationalhymne fasst diese positive, nahezu freundschaftliche Zuwendung aller Menschen in einem – wie ich finde – viel schöneren Begriff zusammen: „Einigkeit“. Einigkeit in der Vielfalt moderner Gesellschaften entsteht nicht von heute auf morgen. Sie wächst im vertrauensvollen Miteinander, im konstruktiven Streben nach einer guten gemeinsamen Zukunft ohne den und die Einzelne dabei zu entmündigen. Diese Einigkeit wünsche ich zum Tag der Deutschen Einheit nicht nur uns Deutschen, sondern der gesamten Menschheitsfamilie.


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[Rubrikenbild: Photo by Vidar Nordli-Mathisen on Unsplash]

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