„Religion wird wieder an Bedeutung gewinnen“: Interview mit Verfassungsrechtler Paul Kirchhof

Eine demokratische Verfassung sei ein Spiegel ihres Staatsvolks, sagt der Jurist Prof. Dr. Paul Kirchhof. Wenn das Grundgesetz unter anderen religiöse Wurzeln habe, dann dürfe die Religion in der Verfassung sichtbar bleiben. Das sei kein Widerspruch zur Trennung von Staat und Religion. Robert Mucha hat mit Paul Kirchhof gesprochen.

Robert Mucha: Herr Prof. Kirchhof, wenn man an Demokratie denkt, denkt man nicht unmittelbar in einem zweiten Schritt an Religion. Glauben Sie, dass Religion für eine funktionierende Demokratie wichtig ist, oder könnte die Gesellschaft auf Religion an sich auch gut und gerne verzichten?

Paul Kirchhof war Lehrstuhlinhaber für Staatsrecht an der Universität Heidelberg sowie Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht. Von 1987 bis 1999 war er Bundesverfassungsrichter und ist nach wie vor wissenschaftlich und publizistisch tätig.

Paul Kirchhof: Ich glaube, weder Staat noch Gesellschaft können auf Religion gänzlich verzichten. Die Verfassunggebung geschah auf einem Fundament, das sich aus religiösen Wurzeln speist. Religion ist in der Gesellschaft unverkennbar präsent. Man muss es so sehen: Demokratie spiegelt das Staatsvolk wider. Wenn nun ein Staatsvolk religiös ist – mehrheitlich religiös ist es in Bezug auf Deutschland bei Verfassunggebung gewesen und ist es auch heute noch –, dann kann der Staat nicht ohne Religion sein. Vereinfacht gesagt: Sind die Bürger mit Gott, kann der Staat nicht ohne Gott sein. Aber – und das ist wichtig: Der Staat an sich gibt nicht die letzte Antwort auf die Wahrheitsfrage, also darauf, ob und wie Gott zu denken ist. Die Wahrheitsfrage bleibt im Staat offen, Antworten geben andere Akteure, insbesondere die verschiedenen Religionen und Konfessionen.

Die momentane Diskussion über das Verhältnis von Religion und Gesellschaft entzündet sich ja vor allem am Islam. Welche Rolle spielt der Islam im Rahmen unserer demokratischen Ordnung? Ist er Problem oder Weitungserfahrung?

PK: Nun, er könnte beides sein. Wir beobachten nicht erst seit Kurzem, dass sich das religiöse Leben in Deutschland immer vielfältiger entwickelt. Dabei fallen auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Religionen auf. Denken Sie etwa an gemeinsame wie trennende Traditionen zwischen Christentum und Islam, aber auch ihre Suche nach dem einen Gott, der nur derselbe sein kann. Die Frage ist dann: Wie gehen wir in der Gesellschaft mit den Unterschieden um? Dabei ist bezüglich des Islam auch die Frage zu stellen, wer ihn repräsentiert, wer Ansprechpartner ist – auch für die Politik. Wie organisiert sich die Religion?

Dann müssen die Eigenständigkeiten definiert werden und die Gesellschaft muss reagieren: Folgt sie bezüglich einiger Fragen und auch Einstellungen einer Religion? Wenn ja, in welcher Weise und welchem Umfang? Integriert sie bestimmte Sichtweisen oder markiert sie sie als nicht konform mit den eigenen Idealen? Ein so abwägendes Suchen ist heute mehr denn je vonnöten.

Glauben Sie, dass das Thema „Religion“ in unserer Gesellschaft perspektivisch eher wieder Bedeutung gewinnen wird, oder weiter an Relevanz verliert?

PK: Es wird an Bedeutung gewinnen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Menschen, die über sich und ihre Existenz nachdenken, all die existentiellen Fragen verdrängen, mit denen Religion den Menschen konfrontiert. Woher kommen wir? Was erwartet uns nach dem Tod? Wie sollen wir leben? Was ist „gut“ zu nennen, was „schlecht“?

Momentan erleben wir eine Schwächeperiode des Christentums in Deutschland. Zudem beobachten wir eine sich immer stärker ins Private zurückziehende Religiosität: Über Religion wird in der Gesellschaft kaum noch inhaltlich diskutiert. Dabei ist so ein Gedanke wie das „Jüngste Gericht“ zentral, nicht nur für mich als Juristen. Das Bewusstsein, dass wir beobachtet werden, wenn keiner uns sieht, hat Folgen für unser Denken, Fühlen und Handeln. Die Annahme einer Instanz über uns hat Auswirkungen auf uns persönlich und unser Zusammenleben im Staat. Religion wird auch deshalb wichtiger, weil die Quellen der Werte, insbesondere der Menschenrechte, nicht versiegen dürfen. Wenn die Wurzeln dem Verfassungsbaum keine Kraft mehr zuführen, verdorrt der Baum. Selbst die Französischen Revolution spricht von „heiligen“ Menschenrechten. Unser Grundgesetz baut auf das Christentum, den Humanismus, die Aufklärung und die sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts.

Darf ich Sie abschließend noch fragen, was Ihre erste Reaktion auf den Titel unserer Veranstaltung „Das gespannte Band – Staat und Religion zwischen Koexistenz und Konflikt“ war, die am 24. Oktober im Gasteig stattfinden wird?

PK: Ich fand es eine sehr schöne und gut überlegte Formulierung, weil sie das ausdrückt, was die Beziehung von Staat und Religion kennzeichnet: Eine Verbundenheit – aber zum Zerreißen gespannt. Das Band zwischen Staat und Religion könnte, so legt es Ihre Formulierung nah, auch zerreißen. Es liegt folglich an uns, in unserer Demokratie dafür einzutreten, dass es in einer produktiven Spannung bleibt.


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[Foto: Pressefoto; Rubriklistenbild: © Friederike Hentschel]

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