Orte der Demokratie: „Zum Goldenen Anker“

Die Schillerstraße 34 im Müncher Bahnhofsviertel: Ein dreistöckiges Wohnhaus aus dem vergangenen Jahrhundert, im Erdgeschoss ist das orientalische Restaurant „Derya“. Rechts davon eine Bäckerei, die noch selber backt, links ein Hotel und daneben die Durchfahrt zur Innung für Elektro- und Informationstechnik. Gegenüber gibt es eine Table-Dance-Bar, die aber nur wenig frequentiert ist, da sie abseits der anderen Bars und Clubs dieses Quartiers liegt. Wir sind hier im ruhigen Teil des südlichen Bahnhofviertels, wo wenige Häuser weiter das Klinikviertel beginnt.

Obwohl unscheinbar, ist dies ein sehr wichtiger Ort der Demokratie. Denn vor 100 Jahren wurde in diesem Haus die Gaststätte „Zum Goldenen Anker“ betrieben, der Ort, von dem Oskar Maria Graf später sagen wird: „In dieser kleinen Gastwirtschaft begann buchstäblich die ganze Revolution.“

Die bayerische Revolution in einer Gaststätte? Ja, denn ohne die Schillerstraße 30, heute Hausnummer 34, und den „Goldenen Anker“ hätte es vermutlich 1918 tatsächlich keine Revolution in Bayern und die Ausrufung der ersten Republik auf deutschem Boden gegeben. Hier traf sich Kurt Eisner regelmäßig jeden Montag mit gleichgesinnten und neugierigen Münchner*innen zu einem Stammtisch. Das Besondere war, dass unter den Zuhörer*innen und diskutierenden Bürger*innen Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen Münchens gewesen sind: von Arbeiter*innen über Kriegsheimkehrer bis zu Künstler*innen.

Ein „Salon“ für alle Schichten

München hatte zwar früher eine bedeutende Salon-Kultur, künstlerisch-literarische, wie die von Elsa und Max Bernstein oder Marianne von Werefkin. Die Salons waren Treffen der Bourgeoisie mit bekannten und (noch) nicht berühmten Schriftsteller*innen und bildenden Künstler*innen,  aus der sich zum Beispiel auch die „Blauen Reiter“ gründeten. Die Mittelschicht und Arbeiterschaft war zu solchen Salons aber nicht eingeladen und politische Umbrüche gingen von diesen kaum aus.

Als am 7. Dezember 1916 die USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) und mit ihnen Kurt Eisner, 1918 erster Ministerpräsident Bayerns, ihren ersten Diskussionsabend im „Goldenen Anker“ abhielt, eigentlich ein Stammtisch, konnten sich die 25 Anwesenden auch nicht vorstellen, dass sie hier einen Grundstein für die erste bayerische Republik gelegt haben. Doch schon in kurzer Zeit wurde aus dem Stammtisch ein Diskussionsklub und für Eisner ein Treffpunkt seiner politischen Basis. Und anders als in den Salons, kamen hier nicht nur Künstler*innen und die Oberschicht zusammen, sondern auch das Proletariat. Bis zu 150 Menschen, darunter 20 Frauen – zu dieser Zeit war das in Deutschland noch nicht üblich – und 30 Soldaten versammelten sich und diskutierten darüber, ob in Deutschland eine Revolution möglich wäre. Welche Kraft Eisner hatte, beschreibt Heinrich Mann in seiner Trauerrede nach der Ermordung Eisners:

„Die hundert Tage der Regierung Eisners haben mehr Ideen, mehr Freuden der Vernunft, mehr Belebung der Geister gebracht, als die 50 Jahre vorher. Sein Glaube an die Kraft des Gedankens sich in Wirklichkeit zu verwandeln, ergriff selbst Ungläubige. So einfach ist es, Geschichte zu machen.“

Auch andere literarische Größen wie Oskar Maria Graf kamen im „Goldenen Anker“ in Kontakt mit den Revolutionären Münchens:

„Unerregt saß alles da und blickte auf einen Tisch vorne, hinter dem ein nicht sehr großer Mann mit wallendem grauen Haupthaar, einem ebensolchen Schnurr- und Spitzbart stand und eine Rede hielt. Einen Kneifer trug er, hinter dem sehr bewegliche kleine Augen saßen. Hin und wieder unterstrich er irgendeinen Satz mit einer kurzen Armbewegung oder streckte den Zeigefinger wie ein Schullehrer in die rauchige Luft. Er hatte eine ziemlich tonlose, etwas kratzende Stimme, sprach aber sehr flüssig. Seine Kleidung war lässig, und alles an ihm machte den Eindruck von einem pensionierten Schulrat oder Professor. […] ‚Wer ist denn der Redner?‘ erkundigte ich mich leise bei meinen Nebenmann. ‚Der Eisner‘ war die Antwort. Ich suchte in meinem Gedächtnis, ging alle Revolutionäre und Bekannten aus meiner Anarchistenzeit durch, nein, ich musste mich geirrt haben. Liebknecht, Bebel, Rosa Luxemburg, Landauer, Mühsam, die gehörten zu den Radikalen, aber Eisner? Wo war ich denn hingeraten?“

War Eisner radikal oder nicht? Auf jeden Fall hatte er sich mittlerweile gegen den Ersten Weltkrieg positioniert und im Januar 1918 im „Goldenen Anker“, trotz Anwesenheit der Polizei, vor über 100 Menschen dazu aufgerufen, „die Monarchie zu stürzen und nicht nur den preußischen, sondern den gesamten Militarismus niederzuringen“. Außerdem forderte er Munitionsarbeiter zum Streik auf. Das Ergebnis war die Inhaftierung Eisners, der achteinhalb Monate im Gefängnis zubringen musste.

Keine Erinnerung an den historischen Ort

Was das alles mit Heute zu tun hat? In der Gaststätte „Zum Goldenen Anker“ versammelten sich Menschen um miteinander zu sprechen, etwas gemeinsames zu entwickeln und andere Bürger*innen für ihre Ansichten zu gewinnen. Nicht anonym, wie es im Internet heute möglich ist. Es gibt inzwischen großartige digitale Möglichkeiten sich mit anderen Menschen über politische Themen auszutauschen, seine Meinung zu vertreten, andere von seinem Standpunkt zu überzeugen und sich zu organisieren.

Doch es ist etwas anderes, wenn ich dies in der Öffentlichkeit tue, unmittelbar mit anderen Menschen diskutiere, die im selben Raum oder Ort sind, und meinen Standpunkt vertreten muss. Demokratie lebt von den Menschen, einem Austausch und dem Ringen um Positionen, nicht von Parolen oder (Hass)-Kommentaren. So altbacken der „Stammtisch“ für manche klingen mag – wenn er für alle offen ist und eine echte Diskussionskultur dabei herrscht, kann manchmal etwas Revolutionäres daraus entstehen.

               

               

Heute befindet sich am historischen Ort ein orientalisches Restaurant. Nichts, auch keine Plakette, erinnert daran, dass hier die Demokratie in Bayern von Männern und Frauen diskutiert, organisiert und vor allem mit Leben gefüllt wurde. Eigentlich schade. Ein Vorschlag für den Text einer möglichen Tafel wäre:

„Demokratie heißt nicht Anerkennung des Unverstandes der Massen, sondern Demokratie heißt der Glaube an die Möglichkeit der Vernunft der Massen.“

—Kurt Eisner


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