Orte der Demokratie: Die Theresienwiese

„Die Revolution ist nicht die Demokratie. Sie schafft erst die Demokratie.“
— Kurt Eisner

Die bestehende Demokratie ist harmlos, bunt und dreht sich. So zumindest scheint es Ende September beim Blick aus einer der vier Sichtluken der Bavaria-Statue am westlichen Rand der Theresienwiese. Festzelte und Fahrgeschäfte werden aufgebaut, Fressbuden und Toilettenhäuschen zusammengezimmert. Dazwischen arbeiten zahllose Menschen an den Vorbereitungen zu Münchens berühmtestem Großereignis.

Zwei Wochen im Jahr feiert die ganze Welt hier ein riesiges Volksfest. Doch wissen wohl die wenigsten, die zu den bronzenen Füßen der bayerischen Symbolfigur alljährlich ihren vom Singen und Tanzen müden und von den Umdrehungen diverser Fahrgeschäfte schwummerig gewordenen Kopf betten, auf welch historischem Boden sie das zuvor teuer erstandene Bier gerade wieder loswerden.

„Theresiens Wiese“ ist nicht einfach nur ein Ort demokratischen Trinkens und sich Verbrüderns. Im November 1918 verliehen zehntausende Münchnerinnen und Münchner hier ihrer Hoffnung auf eine politische Zukunft fern der Monarchie durch eine Friedenskundgebung Ausdruck und legten damit den Grundstein für die Münchner Räterepublik und den Freistaat Bayern.

Doch neben dem Zusammenhalt und der Gleichheit der Menschen wurde hier auch immer wieder der Unmenschlichkeit und völkischen Gesinnung gehuldigt. Adolf Hitler ließ sich 1938 vor rund 500.000 Teilnehmern in einem bis ins Detail durchchoreographierten Festakt auf der Theresienwiese feiern und nutzte auch das Oktoberfest selbst als Propagandawerkzeug.

Im September 1980 dann explodierte am Haupteingang der Festwiese eine Bombe. Das rechtsradikal motivierte Oktoberfestattentat kostete zahlreiche Menschen das Leben – und zerstörte das vieler weiterer. Die Theresienwiese hat vieles gesehen, Höhen wie Tiefen der Demokratie. Hoffnungsfrohe Bürger, Gewalt und zum Nazi-Gruß erhobene Hände.

Das Oktoberfest dagegen feiert – ganz im Sinne eines Volksfestes – den unbeschwerten Eskapismus. Wenn man so möchte: Brot und Spiele. Oder auch: Hendl und Geisterbahn. Zugleich ist die Wies’n ein Barometer für die aktuelle Stimmung im Land. Terrorangriffe und Instabilität führen zu Verunsicherung, diese wiederum zu verstärkter Polizeipräsenz. Heute ist das Gelände rundum bewacht, die Besucher werden kontrolliert. Inmitten unruhiger Zeiten erscheint der Innenbereich der sorgsam errichteten Umzäunung wie eine utopische Blase. Selbst die Münchner Polizei arbeitet daran mit, diese Illusion aufrechtzuerhalten. Unter dem beliebten Twitter-Hashtag #Wiesnwache geben die zuständigen Beamten sich witzig und volksnah.

Wiesntrubel 2018 – Foto: Carla Borengässer

Auch die anderen Veranstaltungen auf der Theresienwiese dienen in erster Linie der eher leichten Unterhaltung, vom Frühlingsfest und dem Tollwood über den Riesenflohmarkt bis hin zu einem einmalig zugelassenen Zirkusgastspiel pro Jahr. Für zusätzliche Veranstaltungen bleiben fünf freie Tage, über deren Vergabe das Münchner Amt für Arbeit und Wirtschaft entscheidet.

Den Rest des Jahres liegt die Theresienwiese die meiste Zeit brach und erscheint für eine derart große innerstädtische Fläche erstaunlich öde und leer. Aus der Vogelperspektive sieht das 42 Hektar große Areal aus wie ein riesiges inneres Organ inmitten des sonst so dicht bebauten Stadtkörpers. Es ist die wohl größte kommunale innerstädtische Brachfläche in Deutschland, für die es keine Bebauungspläne gibt. Weshalb das so ist, lässt sich relativ leicht mit dem „Wirtschaftsfaktor Wies’n“ erklären. Um die 1,23 Milliarden Euro fließen durch das Fest selbst und den dadurch angekurbelten Tourismus alljährlich in die Kassen der Stadt.

Gewinnmaximierung statt Monarchie, Revolution oder Ideologie

Natürlich gibt es auch heute noch Anfragen für politische Kundgebungen oder Demonstrationen auf diesem historischen Boden. Das Veranstaltungs- und Versorgungsbüro der Stadt München prüft sie und erteilt – unter Berücksichtigung der Meinungsfreiheit, aber auch der Inhalte – Genehmigungen oder Absagen. Doch in Zeiten der Wohnungsknappheit ist es wohl einzig der gesicherten Einnahmequelle geschuldet, dass die Theresienwiese auch weiterhin in ihrem jetzigen Zustand erhalten bleibt.

Zeigt deren Entwicklung also tatsächlich das Kapital als neues Fundament der Demokratie? Oder gibt es andere Wege?

„Ich bekenne mich zum Ideal der Demokratie, trotzdem mir die Nachteile demokratischer Staatsformen wohlbekannt sind“, sagte Albert Einstein, der in seiner Jugend 1896 beim Zeltaufbau und der Beleuchtung des Schottenhammels auf dem 82. Oktoberfest mithalf. Einstein hätte ein Arbeiter bleiben können wie sein Vater, doch er entschied sich bekanntermaßen anders. Und wie das persönliche Wachstum, hat auch eine zukunftsfähige Demokratie mit der Entscheidung zu tun, nach der höchsten Version jedes Einzelnen wie auch der Gemeinschaft zu streben.

Die Bavaria Statue, ersonnen vom visionären Kunstkönig Ludwig I. als Anlehnung an die griechische Göttin Athene (und im Rahmen seiner Bestrebungen, München in ein „Isar-Athen“ zu verwandeln), hält dank der germanischen Gesinnung des Bildhauers Ludwig Schwanthaler einen Eichenkranz in den weiß-blauen Himmel, aus Zweigen des „teutschesten“ aller Bäume. Die Patrona Bavariae ist eine säkulare Schutzpatronin. Keine Heilige, sondern weltlich und damit fehlbar, wie umfangreiche und dringend notwendige Sanierungsarbeiten im Jahre 2001 gezeigt haben. Sie ist weder „gut“, noch „schlecht“ – ebenso wie der Kranz in ihrer Hand. Die Bedeutung und Auslegung bleibt uns überlassen.

Die Bavaria ist die Schutzpatronin von Bayern und steht im Westen der Theresienwiese in München. Foto: Karl Schillinger (via CC 4.0)

Ebenso ist es mit der Freifläche, auf die sie seit fast 70 Jahren hinunterblickt. Die Theresienwiese ist eine Möglichkeit. Hier wurde kaum etwas gestaltet, sie ist – abgesehen von den Veranstaltungen – nicht durchorganisiert. Es ist ein Ort des Atemholens in der Großstadt, an dem Kinder Fahrradfahren lernen, aber auch ein Ort der Erinnerung und der Mahnung, besonders wenn man vor dem Denkmal zum Oktoberfestattentat steht. Und es ist ein Ort an dem gefeiert wird. Gemeinsam.

Im April dieses Jahres wurde die deutsche Räterepublik 100 Jahre alt, und demokratisches Bestreben ist wichtiger denn je. Deshalb kann die Theresienwiese ein Ort komatösen Trinkens sein – oder der bewussten Begegnung; ein Ort vom Bier angeheizter Aggressionen – oder der Verständigung. Sie kann ein Ort sein, an dem die Angst regiert, oder an dem eine gemeinsame Zukunftsvision entsteht.

Nach dem Anstich („O’zapft is!“) spricht der Oberbürgermeister stets die schönen Worte: „Auf eine friedliche Wies’n“. Die Theresienwiese ist eine freie Fläche. Den Inhalt bestimmen die Menschen, die sich auf ihr versammeln.

 


Bilder (chronologisch): 1. © Carla Borengässer; 2. Karl Schillinger (via CC BY-SA 4.0);

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