Fundstück: Literarische Kassiber

Corona im Mai 2020: Obwohl die Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen und die Öffnungen von Geschäften enorm zur Wiederbelebung der Orte beitragen, befindet sich der Kulturbetrieb weitgehend immer noch im pandemisch bedingten Lockdown. Immerhin können wir uns wieder an den Büchern in unseren Lieblingsbuchhandlungen erfreuen – und in Zeiten der Kurzarbeit fällt vielleicht sogar ein wenig Muße ab, sie auch zu lesen.

Kulturveranstaltungen aber, die die physische Präsenz aller Beteiligten voraussetzen, finden derzeit nicht statt. Vieles wird jedoch ins Netz verlagert – Lesungen, Konzerte, Vorträge, Tutorials, Museumsführungen. Die ganze Welt im Online-Modus. Davon sind auch herausgehobene Jahrestage nicht ausgenommen. Gerade in der vergangenen Woche haben die Münchner*innen mit weißen Flaggen an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren gedacht und Fotos von ihren Aktionen gepostet. Und am 10. Mai wird die schon seit längerem auf dem Königsplatz durchgeführte Erinnerungslesung an die Bücherverbrennung von 1933 auf einem Youtube-Kanal präsentiert.

 

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Auf den 12. Mai 2020 fällt ein doppeltes Gedenken, das mit Paul Celan und Nelly Sachs, zwei der bedeutendsten Vertreter*innen der deutschsprachigen Lyrik, verbunden ist. Johanna Renate Döring – emeritierte Professorin der Ludwig Maximilians Universität und Dozentin an der Münchner Volkshochschule – hat sich mit einem Gedicht von Paul Celan auseinandergesetzt, ihre Gedanken zu einem weiteren „literarischen Kassiber“ stellt sie uns hier zur Verfügung:

Vor fünfzig Jahren: am 12. Mai 1970 erliegt in Stockholm Nelly Sachs qualvoll ihrem Krebsleiden. Am selben Tag wird Paul Celan, der den Freitod in der Seine gesucht hatte, in Paris beigesetzt. Beide waren sie „jüdische Dichter deutscher Sprache“, wie Hans Magnus Enzensberger die 1961 von ihm erstmals vollständig edierte Nelly Sachs genannt hatte.

Beide hatten enge Familienangehörige, die in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern umgebracht worden waren. Beide waren nachhaltig von der Shoa seelisch verstört, zerstört.

Nachdem Celan bereits 1957 die weitaus ältere Dichterin für eine Publikation um neue Gedichte gebeten hatte, war zwischen beiden ein Gespräch entstanden, das in unterschiedlicher Offenheit und in wechselnder Intensität fast bis zu beider Lebensende anhielt. Getroffen allerdings haben sie sich nur zweimal. Im Jahr 1960. Zu  einem dritten Treffen kam es nicht. Celans Bemühen, die Freundin in der Psychiatrischen Klinik in Stockholm aufzusuchen, scheiterte. Sie ließ ihn wohl nicht mehr zu sich. Nachdem sie erstmals seit ihrer Emigration wieder in Deutschland gewesen war, um den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis entgegen zu nehmen, hatte sie einen Zusammenbruch. Ihre Verfolgungsängste und Paul Celans, durch die Plagiatsvorwürfe von Claire Goll intensivierter, Verfolgungswahn hatten sich wechselseitig gesteigert. 1963 spricht Nelly Sachs in ihrem Rätsel-Gedicht „Einmal“ von den inneren Vorwürfen, die sie heimsuchten, weil sie ihr „Du, das man gefangen hielt“, „nicht zu retten vermochte“. Dieses „Du“ benannte sie lakonisch mit „Paul“.

Auftritte in den Gedichten des anderen

Ebenfalls 1963 veröffentlichte Paul Celan seinen Gedichtband Die Niemandsrose, in dem er enge Bezüge zu Nelly Sachs herstellt: Dem ersten Treffen in Zürich, bei dem die beiden intensiv über ihren Glauben diskutierten, gilt das Gedicht ZÜRICH ZUM STORCHEN. Explizit Nelly Sachs gewidmet, erfuhr es viele literatur- und religionskritische Deutungen. Auf dieses berühmte Gedicht folgen die weniger beachtete Verse des Gedichts SELBDRITT SELBVIERT: „Krauseminze, Minze, krause, / vor dem Haus hier, vor dem Hause. / Diese Stunde, deine Stunde, / ihr Gespräch mit meinem Munde. / Mit dem Mund, mit seinem Schweigen, / mit den Worten, die sich weigern.“

Man kann es – wie alle Celan-Gedichte – vielmals und vielfach lesen, ausgehend von der konkreten Situation: Celan war zum Treffen mit Nelly Sachs in Begleitung von Ehefrau und 5-jährigem Sohn gekommen – „Selbdritt“, notiert Celan. Nelly Sachs fühlte sich in ihrer Sehnsucht nach Familie in diese Gruppierung einbezogen („Ihr meine geliebten Drei“, schreibt sie nach dem Treffen). Ihre Sehnsucht nach dem „Selbviert“ griff Celan in den Versen „Mit mir einem, mit uns dreien / halb gebunden, halb im Freien“ auf. Am 20. Juli 1960, um ihre Erkrankung wissend, schrieb er ihr einen Brief in der stilisierten kindlichen Diktion seines Sohnes, dessen Name Er-ic nicht zufällig zwei Personalpronomen kombiniert. Der Duktus der Zauber-Verse SELBDRITT SELBVIERT könnte also durchaus dieser familiären Perspektive – mit der Konzentration auf das „großäugige Zauberkind“  – und dem Wunsch, selbst mit Versen zu „zaubern“, geschuldet sein: „Mit den Weiten, mit den Engen, / mit den nahen Untergängen. / Mit mir einem, mit uns dreien, / halb gebunden, halb im Freien. / Krauseminze, Minze, krause, / vor dem Haus hier, vor dem Hause.“

Doch die Verse: „Mit dem Mund, mit seinem Schweigen“, enthüllen zugleich Celans eigene Intention: poetischen Widerstand zu leisten gegen falsche Festlegungen und Vereinnahmungen.

Noch ein Drittes vollzieht Celan in seinen SELBDRITT SELBVIERT-Versen: Er greift zurück auf das Langgedicht von Nelly Sachs  über  eine „Zaubernacht“. Das Gedicht DIE STUNDE ZU ENDOR beruft sich auf die alttestamentarische Erzählung (1. Sam. 28) von der Totenbeschwörerin, die dem „Gott-entlassenen“ König Saul zum Gespräch mit dem verstorbenen Propheten Samuel verhilft  Das Gedicht von Nelly Sachs gehört also zum Genre der Totengespräche – und so erfasst es Celan und übernimmt von Sachs das mythologische Bild der Krauseminze als Emblem für die Unterwelt.

„Aus der Fruchtschale der Welt / griffst du die Tollkirsche, / die alle Himmel falsch anfärbt, / Blut-Krause-Minze sät“ heißt es bei Nelly Sachs über den „kranken König,  / Umstellt von der Steine Totenmusik“ (Fahrt ins Staublose, 1961, S. 217f.). Celan zerlegt die Wort-Zusammenfügung „Krauseminze“, dreht sie um, wiederholt und bekräftigt sie am Anfang und am Ende seines Gedichts. So huldigt er in seinen nur scheinbar leichten SELBDRITT SELBVIERT-Versen der dichterischen Wandlungskraft von Nelly Sachs, die mithilfe der biblischen Prophetensprache den Tod ihres gemeinsamen jüdischen Volkes zu vergegenwärtigen vermochte.


Literatur:
  • Paul Celan: Die Niemandsrose. (Suhrkamp Verlag) Frankfurt am Main 1963.
  • Nella Sachs: Fahrt ins Staublose. (Suhrkamp Verlag) Frankfurt am Main 1961.
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