Das Lebenselixir der Demokratie

Demokratie lebt nicht vom Konsens allein – damit es zu einem solchen überhaupt kommen kann, braucht es eine lebendige Streitkultur. Im Vorfeld des Bildungsforums Im Widerstreit – Streitkultur als Lernfeld der Demokratiebildung argumentiert Susanne May, Programmdirektorin der Münchner Volkshochschule, für den Mut zum politischen Streit und gegen ein falsches Harmoniebedürfnis.


Das britische Unterhaus erinnert Außenstehende zuweilen an eine Kampfarena. Als Theresa May ankündigte, die Abstimmung über den Brexit vertagen zu wollen, sorgte das nicht nur für hitzige Debatten sowohl auf Seiten der „Brexiteers“ wie auch der „Remainers“. Es kam auch zu einer bemerkenswerten symbolischen Grenzüberschreitung, die weit über die hitzigen Debatten und lautstarken Zwischenrufe hinausging: Aus Protest gegen die Ankündigung der Regierung sprang ein Abgeordneter auf und lief schnurstracks auf die Tafel des Hauses zu, die sich vor dem Stuhl des Speakers befindet. Er nahm den schweren, vergoldeten zeremoniellen Streitkolben an sich, der die königliche Macht symbolisiert. Unter „put it back!“-Rufen empörter Abgeordneter gelang es schließlich zwei Kammerdienerinnen, dem Parlamentarier das kostbare Stück zu entreißen und an seinen Platz zurück zu bringen.

Die Rauflust des britischen Unterhauses ist legendär. Ganz im Unterschied dazu stößt es in Deutschland nicht auf große Begeisterung, wenn Politiker streiten – auch wenn im Alltag gern und oft gestritten wird, und sei es um das Halten von Hühnern im benachbarten Garten. Während die klagenden Bürger vor Gericht ziehen, um zu ihrem Recht zu kommen, geht es im politischen Streit in der Regel um einen Aushandlungsprozess, der darauf zielt, einen Kompromiss zu schließen.

Die Aushandlung von politischen Meinungsunterschieden und Interessenskonflikten gehört wesentlich zum demokratischen Prinzip. Es gibt in der Demokratie kein unstrittiges „Gemeinwohl“, das nur aufgefunden und in einem Aktionsplan umgesetzt werden müsste. Was dieses „Gemeinwohl“ sein kann, lässt sich nur in der streitbaren Auseinandersetzung ermitteln. Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, hat treffend bemerkt: „Die Demokratie des Grundgesetzes ist keine Kuscheldemokratie. Sie lebt von der leidenschaftlichen Auseinandersetzung, zu der auch eine kraftvolle Rhetorik und prägnante Zuspitzungen gehören.“

Harmonie – eine unerfüllbare Erwartung

Die Abneigung gegen Streit im Alltagsleben ist verständlich. Es lebt sich angenehmer, wenn man nicht mit seinen Nachbarn im Clinch liegt. Schwierig wird es, wenn wir das Bedürfnis nach Harmonie auf die Sphäre der Politik übertragen. Der Soziologe Ralph Dahrendorf, der übrigens britischer Staatsbürger und Mitglied des House of Lords wurde, vermutet im Harmoniebedürfnis eine Besonderheit der deutschen politischen Kultur. Dagegen vertritt er die Auffassung, Harmonie sei in der Politik eine prinzipiell unerfüllbare Erwartung, die nur enttäuscht werden könne. Streit sei in der Demokratie nicht nur unvermeidbar, er entfalte auch eine produktive und letztlich integrierende Wirkung. Streit müsse deshalb gelernt und kultiviert werden. „Gesellschaften bleiben menschliche Gesellschaften, insoweit sie das Unvereinbare in sich vereinen und den Widerspruch lebendig erhalten.“ Allein in Diktaturen werde nicht gestritten.

Wann aber sind Streitereien aussichtslos oder gar destruktiv? Das ist nicht immer eindeutig zu sagen. Grenzen liegen sicherlich dort, wo der Gegner persönlich angegriffen und verleumdet wird, wo die Regeln des zivilen Streits gar gewaltsam gebrochen werden. Deshalb sind Demokratien, in denen nicht gestritten wird, ebenso gefährdet, wie Demokratien, in den nicht zivilisiert gestritten wird.

Streit braucht Regeln

Harte und dogmatische Polarisierungen bekommen dem produktiven Streit ebenfalls nicht. Wie soll man beispielsweise mit Leuten streiten, die Fakten leugnen? Das ist fast aussichtslos. Denn in diesem Fall stehen sich Gegner gegenüber, die sich über gar nichts mehr verständigen können, nicht einmal mehr über die Tatsache, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Andererseits lässt es sich auch nicht leicht mit Leuten streiten, die glauben, dass unsere Welt morgen untergeht. Denn in diesem apokalyptischen Horizont wäre der Meinungsstreit ja nur sinnlose Zeitverschwendung.

Streit braucht Regeln. Die gelten übrigens auch im britischen Unterhaus: Der Abgeordnete, der versucht hatte, den Streitkolben an sich zu reißen, wurde für einen Tag aus dem Parlament ausgeschlossen.


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